Sind die USA ein Totalausfall?
Die USA sind mit Abstand die größte Volkswirtschaft. Diese Entwicklung kam nicht von ungefähr, denn die USA standen lange Zeit im Ruf einer stabilen, demokratischen und liberalen Wirtschaftsmacht, wo im Grunde alles möglich war. Denkt an die Formel des „American Dreams“. Dies war für Generationen von Europäern der Motor und die Motivation in die Vereinigten Staaten auszuwandern, um einen Neuanfang zu wagen. Die jüngsten Entwicklungen hinterlassen jedoch einen bitteren Nachgeschmack, und das einst so hochgelobte Amerika verliert zunehmend an Glanz.
Nun sind wir Europäer im Grunde weit weg. Und man könnte den Standpunkt vertreten, dass die Entwicklungen in den USA uns nichts anginge. Das Gegenteil ist der Fall. Durch den Wegfall der unipolaren Weltordnung steuern wir auf eine neue, multipolare Neuordnung zu. Das führt zu neuen Koalitionen der Macht und auch zu Konflikten, wie wir sie in den letzten 30 Jahren verdrängt hatten. Revisionistische Ambitionen keimen in manch einem politischen Akteur auf, und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es zu noch mehr kriegerischen Auseinandersetzungen als ohnehin schon kommt.
Für global agierende Unternehmen entstehen neue Herausforderungen, die Zeiten in denen Geschäfte ohne große Handelsbarrieren abgewickelt werden konnten, gehören bereits heute der Vergangenheit an. Der „Fall“ Amerikas zwingt uns bereits heute dazu, Handelsbeziehungen und Lieferketten neu zu denken. Wir müssen in eine Art Notfallmodus wechseln, wo wir uns intensiv mit Krisen und Resilienzfähigkeit beschäftigen müssen. Der Fokus auf immer effizientere und schlankere Strukturen und Prozesse ist nicht mehr zielführend und kann schnell zum Kollaps einzelner Industrien und Betriebe führen.
Konkret müssen wir uns hinsichtlich der Abhängigkeit zu den USA folgende Fragen stellen und neue Antworten finden:
Wie kann der US-Markt durch neue Kunden/Märkte kompensiert werden? Je nach Dimension keine triviale Aufgabe, die ausreichenden Vorlauf benötigt.
Europäische Unternehmen haben eine monopolistische Abhängigkeit von digitalen US-Lösungen (META, Microsoft, ChatGPT) etc.? Gibt es Alternativen dazu und welche Konsequenzen hat ein Anbieterwechsel in finanzieller und zeitlicher Hinsicht?
Die amerikanische Dominanz in der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie schafft Abhängigkeiten gegenüber den europäischen Streitkräften, die den Aufbau einer Landes- und Bündnisverteidigungsfähigkeit stark hemmen und den Einsatz wichtiger Systeme infrage stellen kann. Können sich europäische Systemhäuser mit eigenen Produkten und Komponenten unabhängig machen?
Eine Annäherung der USA an Russland kann in einem Zwei-Fronten-Krieg für die Europäer münden: Wirtschaftskrieg im Westen und militärische Auseinandersetzungen im Osten. Beides zusammen ist für die EU eine enorme, fast nicht zu bewältigende Herausforderung. Der russische Angriffskrieg im Osten liegt außerhalb des Einflussbereiches einzelner Unternehmen, aber auf Seiten der amerikanischen Abhängigkeiten kann man bereits heute nach Möglichkeiten zur Deeskalation suchen.
Der Umbau einer präsidialen Demokratie mit Checks and Balances in eine „diktatorische Demokratie“ führt zu willkürlichen Handlungen, die sich kontraproduktiv auf Unternehmen auswirken können. Europäische Investitionen in den USA sind damit einem höheren Ausfallrisiko unterworfen, was zu negativen Bewertungen durch Ratingagenturen führen kann. Welche Szenarien sind denkbar, und wie geht man damit um?
Der Druck der USA auf China kann sich negativ auf die Handelsbilanz zwischen China und der EU auswirken, da intensiverer Handel zwischen der EU und China als Provokation aufgefasst oder sogar sanktioniert werden könnte. Auch hier ist die Frage nach alternativen Märkten, vorzugsweise regionale Kunden und Lieferanten, zu klären.
Der Fall USA betrifft uns also auf vielen Ebenen und sollte keinesfalls als trivial oder vorübergehendes Abenteuer abgetan werden. Die Entwicklungen der letzten Monate zeigen, wie schnell weitreichende Änderungen zugunsten einer Elite aus Oligarchen trotz aller Verweise auf Checks and Balances umgesetzt wurden.
Die Ära, in der Amerika als stabiler Garant von Wohlstand und Sicherheit galt, neigt sich dem Ende zu. Wer darauf vertraut, dass sich die alten Spielregeln einfach fortschreiben lassen, riskiert, von den Umbrüchen kalt erwischt zu werden. Europa muss jetzt handeln – souverän, resilient und vorausschauend – oder die Abhängigkeit von einem taumelnden Giganten wird uns teuer zu stehen kommen.
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Boris van Thiel
Mitglied der Geschäftsleitung, LMBG GmbH
Boris van Thiel ist Diplom-Geograf und Unternehmer, der 20 Jahre in den Golfstaaten gelebt und gearbeitet hat. Derzeit ist er Mitgeschäftsführer der LMBG Logistik- und Managementberatung GmbH in Berlin. Als Initiator und Macher des Fachblogs Boardroom Geopolitics beleuchtet er die strategische Bedeutung geografischer Zusammenhänge für die Wirtschaft und Unternehmen und beschäftigt sich eingehend mit dem Zusammenhang zwischen Führung und geopolitischen Herausforderungen für Entscheider und Wirtschaftlenker. Er ist zu erreichen unter borisvanthiel@boardroomgeopolitics.de.
