img

Warum sind russische Wegwerf-Agenten gefährliche Akteure für deutsche Unternehmen?

Spionage ist kein neues Phänomen. Seit es organisierte Herrschaft und Handel gibt, versuchen Mächte, Informationen über ihre Gegner, Partner und Konkurrenten zu gewinnen. Schon in der Antike schickten Herrscher Boten, Doppelagenten oder getarnte Händler ins feindliche Lager.

Im Kalten Krieg erreichte der Wettlauf um die besten Quellen und Informanten dann eine systematische und institutionalisierte Perfektion. Damals ging es um die langfristige Rekrutierung von „wertvollen“ Quellen, Das waren Menschen, die tief in Organisationen eingebettet waren, über Jahre Vertrauen gewannen und kontinuierlich Informationen lieferten.

Heute in der Ära der neuen Geopolitik verändert sich die Logik dieser geheimen Operationen. Und damit die Bedrohungslage für deutsche Unternehmen. Vor allem setzt Russland zunehmend auf sogenannte Wegwerf-Agenten: kurzfristig eingesetzte, leicht austauschbare Akteure, die in kürzester Zeit maximale Wirkung entfalten sollen.

Das Bundeskriminalamt und die deutschen Nachrichtendienste warnen die Menschen schon seit einiger Zeit vor Anwerbeversuchen für Spionage und Sabotage über Soziale Medien. Gemeinsam sie jetzt die Kampagne „Kein Wegwerf-Agent werden!“ entwickelt. Sie klärt über dieses Phänomen auf und soll eine breite Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisieren. Damit verfolgt die Kampagne das Ziel, dass Social Media-Nutzerinnen und -Nutzer nicht auf Anwerbeversuche eingehen und diese stattdessen bei den Sicherheitsbehörden melden. Vielleicht entwickeln BKA und die Nachrichtendienste ja auch noch eine Kampagne, wie sich deutsche Unternehmen vor Wegwerf-Agenten schützen können.

Wegwerf-Agenten sind im Kern das Gegenteil der klassischen „menschlichen Quelle“. Sie werden nicht jahrelang aufgebaut, sondern kurzfristig in Unternehmen, Netzwerke oder Lieferketten eingeschleust. Sie sollen so schnell wie möglich bestimmte Aufgaben erfüllen. sei es das Abgreifen technischer Daten, das Manipulieren von Prozessen oder das Platzieren von Schadsoftware über interne Zugänge. Sobald ihre Rolle aufgeflogen ist oder die Mission erfüllt wurde, werden sie fallengelassen.

Wegwerfagenten bedeuten ein minimales Risiko. Da kein langfristiger Aufbau nötig ist, wiegt der Verlust eines Agenten kaum schwer. Sie bieten eine hohe Flexibilität: Je nach Bedarf können Personen aus einem breiten Pool rekrutiert werden. Oft Migranten, Geschäftsleute auf Durchreise oder scheinbar unauffällige Fachkräfte. Außerdem besteht eine geringe Entdeckungswahrscheinlichkeit: Kurzzeitige Einsätze sind schwerer zu erkennen, da sie nicht in klassische Spionage-Muster passen.

Und deutsche Unternehmen sind ein lohnendes Ziel. Das Land steht noch immer für technologisches Know-how, verlässliche Lieferketten und gut strukturierte Mittelständler. Genau diese Kombination macht Firmen hierzulande besonders attraktiv für ausländische Dienste. Im Vordergrund steht der Technologietransfer: Von Maschinenbau bis zur Chemie versuchen russische Dienste, geistiges Eigentum abzugreifen, um die eigene Industrie zu modernisieren. Hinzu kommt die Umgehung von Sanktionen. Über Insider lassen sich Exportkontrollen unterlaufen oder kritische Bauteile ins Ausland verschieben.

Gleichzeitig können Wegwerf-Agenten eingesetzt werden, um gezielt Einflussoperationen durchzuführen: Sie platzieren Narrative, heizen interne Konflikte an oder schwächen das Vertrauen in die Unternehmensführung. Besonders heikel wird es in Krisenszenarien, wenn Firmen in sicherheitsrelevanten Bereichen wie Energie, Verteidigung oder IT-Infrastruktur ins Visier geraten.

Die Methoden der Infiltration haben sich ebenfalls verändert. Während klassische Agenten oft aus dem diplomatischen Umfeld oder über seriös wirkende Deckfirmen rekrutiert wurden, erfolgt die Anwerbung von Wegwerfagenten heute über ganz andere Kanäle. Soziale Medien und Jobplattformen eröffnen Möglichkeiten, kurzfristig Beschäftigte oder Projektkräfte in Unternehmen einzuschleusen.

Auch Studierende und Praktikanten, die Zugang zu Forschungsabteilungen erhalten, können unbemerkt sensible Daten kopieren. Subunternehmer in komplexen Lieferketten bilden ein weiteres Einfallstor, da sie häufig direkten Zugriff auf kritische Prozesse haben. Nicht zuletzt dienen Wegwerfagenten oft der Vorbereitung hybrider Operationen. Etwa indem sie Zugangsdaten beschaffen, die anschließend für digitale Angriffe genutzt werden.

Für Vorstände ergibt sich daraus eine klare Handlungsagenda. Zunächst gilt es, das Bewusstsein zu schärfen: Spionage ist längst kein Problem „der anderen“ mehr, sondern betrifft auch den deutschen Mittelstand. Darauf aufbauend müssen Hintergrundprüfungen intensiviert werden, insbesondere bei zeitlich befristeten Beschäftigten, Dienstleistern und Freelancern.

Ebenso entscheidend ist eine starke Sicherheitskultur im Unternehmen, in der allen Mitarbeitenden klar ist, dass Datenabfluss und unautorisierte Zugriffe keine Kavaliersdelikte sind. Führungskräfte wiederum sollten geopolitische Sensibilität entwickeln und die Verbindung zwischen internationalen Konflikten und unternehmerischen Risiken klar erkennen. Schließlich empfiehlt sich eine enge Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden, die wertvolle Warnungen und Unterstützung bei Verdachtsfällen bieten können.

Russlands Einsatz von Wegwerfagenten signalisiert insgesamt einen Paradigmenwechsel: Spionage ist nicht mehr primär langfristig angelegt, sondern taktisch, flexibel und rücksichtslos austauschbar. Für deutsche Unternehmen bedeutet das eine neue Qualität der Bedrohung.

Wer weiterhin glaubt, dass Industriespionage nur die großen Konzerne betrifft, öffnet Angreifern Tür und Tor. Geopolitisch denkende Vorstände müssen Spionageabwehr daher heute nicht mehr als technische Nebensache begreifen, sondern als integralen Bestandteil ihrer Unternehmensstrategie. Denn in einer Welt, in der Daten Macht sind, ist ihr Schutz letztlich eine Frage der Überlebensfähigkeit.

Artikel teilen:
img
Autor

Christian F. Hirsch

Senior Berater, KR Krisensicher Risikoberatung GmbH

Christian F. Hirsch ist Diplom-Kulturwissenschaftler, Stabsoffizier der Reserve und Kommunikationsprofi mit langjähriger Erfahrung in Führungs-, Aufbau- und Pressesprecherrollen sowie einem Faible für Problemkommunikation. Er war unter anderem Pressesprecher des Rüstungsunternehmen des Carl-Zeiss-Konzerns. Derzeit ist er Chief of Staff der KR Krisensicher Risikoberatung, das in der Ära der Polykrise, des Hybriden Krieges und der geopolitischen Renaissance Unternehmen krisen- und kriegsresilient macht. Als Initiator und Macher des Blogs schreibt er vor allem über die konzeptionelle Weiterentwicklung von unternehmensfokussierter Geopolitik (Corporate Geopolitics), über geopolitikorientierte Unternehmenskommunikation (Geopolitical Corporate Communications/GeoComms) und geopolitiksensibler Führung (Geopolitical Leadership). Er ist zu erreichen unter christianfhirsch@boardroomgeopolitics.de