Warum ist geopolitische Naivität für Unternehmen gefährlich?
Geopolitik ist längst nicht mehr nur eine Frage von Grenzen, Sanktionen oder Handelsströmen. Sie ist eine Frage der Erzählungen. Wer die Deutungshoheit über ein Narrativ gewinnt, bestimmt, wie wir die Welt sehen. „Abhängigkeit von China“, „westliche Dekadenz“, „Sicherheit durch Autarkie“. Das sind keine neutralen Beschreibungen. Es sind politische Waffen. Sie prägen Schlagzeilen, beeinflussen Investitionsentscheidungen und vergiften oder vergolden den Ruf von Unternehmen. Und wer glaubt, als Unternehmen habe man damit nichts zu tun, irrt gewaltig. Denn Narrative suchen sich Opfer.
Die unbequeme Wahrheit ist: Jedes Boardroom-Mitglied sitzt längst mitten in diesem Spiel der Deutungsmacht, ob es will oder nicht. Der Vorstandsvorsitzende, der in einem Interview einen scheinbar harmlosen Halbsatz sagt, kann damit ungewollt ein geopolitisches Narrativ bestätigen. Und schon steht das Unternehmen in der Schlagzeile als „Spielball eines Autokraten“ oder „Profiteur eines Krieges“. Glaubwürdigkeit und Vertrauen, über Jahre aufgebaut, können in Sekunden pulverisiert werden. Wer die Wirkungskraft von Narrativen unterschätzt, handelt fahrlässig.
Es ist Zeit, dass wir uns ehrlich machen: Bilanzen lesen, Strategien abnicken, Compliance-Regeln überwachen. Das reicht nicht mehr. Führung in Zeiten der neuen Geopolitik bedeutet, auch die unsichtbaren Schlachtfelder im Blick zu haben. Narrative sind solche Schlachtfelder. Sie sind subtil, sie sind hartnäckig, und sie wirken tief. Wer sie nicht erkennt, läuft Gefahr, sie unbewusst zu übernehmen. Und wer sie übernimmt, verliert nicht nur kommunikative Souveränität, sondern auch die Freiheit, die eigene Position zu bestimmen.
Deshalb muss jedes Board lernen, Narrative zu lesen wie eine zweite Sprache. Welche Interessen stecken hinter einem NGO-Statement? Wem nützt es, wenn ein bestimmter Frame in der Debatte dominiert? Warum wird ausgerechnet jetzt eine Schlagzeile mit einem bestimmten Spin gesetzt? Diese Fragen sind nicht nur Stoff für Politikwissenschaftler, sie gehören heute in die Toolbox von Vorständen und Aufsichtsräten. Denn wer diese Fragen nicht stellt, wird am Ende von anderen beantwortet. Und das zum Schaden des Unternehmens.
Natürlich, niemand verlangt, dass jede oder jeder im Board zum Experten für geopolitische Rhetorik mutiert. Aber jedes Board braucht Zugang zu dieser Expertise. Ob durch interne Kommunikationsabteilungen, die entsprechend geschult sind, oder durch externe Berater, die geopolitische Narrative entschlüsseln können: Diese Unterstützung ist keine Kür, sie ist Pflicht. Alles andere wäre riskantes Spiel mit der Reputation.
Das Fazit ist so einfach wie unbequem: Geopolitische Narrative sind kein Beiwerk, sie sind ein Machtfaktor. Wer sie ignoriert, wird benutzt. Wer sie versteht, kann gestalten. Und genau das ist die Aufgabe von Führungsgremien im 21. Jahrhundert. Boardroom-Mitglieder müssen die Kompetenz entwickeln, geopolitische Narrative zu durchschauen. Und die Klugheit besitzen, sich dafür gezielt die richtige Unterstützung zu sichern. Alles andere wäre Naivität. Geopolitische Naivität. Die ist gefährlich. Sie kann sich heute kein Boardroom-Mitglied mehr leisten.
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Christian F. Hirsch
Senior Berater, KR Krisensicher Risikoberatung GmbH
Christian F. Hirsch ist Diplom-Kulturwissenschaftler, Stabsoffizier der Reserve und Kommunikationsprofi mit langjähriger Erfahrung in Führungs-, Aufbau- und Pressesprecherrollen sowie einem Faible für Problemkommunikation. Er war unter anderem Pressesprecher des Rüstungsunternehmen des Carl-Zeiss-Konzerns. Derzeit ist er Chief of Staff der KR Krisensicher Risikoberatung, das in der Ära der Polykrise, des Hybriden Krieges und der geopolitischen Renaissance Unternehmen krisen- und kriegsresilient macht. Als Initiator und Macher des Blogs schreibt er vor allem über die konzeptionelle Weiterentwicklung von unternehmensfokussierter Geopolitik (Corporate Geopolitics), über geopolitikorientierte Unternehmenskommunikation (Geopolitical Corporate Communications/GeoComms) und geopolitiksensibler Führung (Geopolitical Leadership). Er ist zu erreichen unter christianfhirsch@boardroomgeopolitics.de
